Sports & Health

Wandern in Istanbul – eine Kurzgeschichte

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Die Türken waren über Jahrhunderte ein Reitervolk, das Wandern gehen sie deshalb vorsichtig an. Mir Neuling wird ein Plan mit der Wanderroute und ein Merkblatt mit praktischen Hinweisen und ärztlichen Tipps in die Hand gedrückt. Ein wackeres Grüppchen schart sich um den Sportarzt und horcht gespannt auf seine Anweisungen und wir prüfen noch einmal, ob die Walkingschuhe richtig sitzen. Sportgetränke, Obst und stärkende Käsebrote werden angeboten. Vorsichtshalber lassen sich einige Teilnehmer den Blutdruck messen. Andere kontrollieren ihr Gewicht auf der Badezimmerwaage. Ein Helfer teilt luftige, ärmellose, weisse Mäntelchen mit Startnummern aus und trägt unsere Namen in einer Liste ein. Niemand soll unterwegs verloren gehen. Es ist 8.15 Uhr, wir sind bereit für den bevorstehenden Marsch. Ängstliche Blicke klettern in die Höhe. Da rauf? Uff! Zum Glück sind die Rolltreppen in Betrieb.

Im „Akmerkez“, dem grössten Einkaufszentrum von Istanbul, sind um diese Zeit, ausser uns 24 Sportwanderern, nur noch Wachleute in eindrucksvollen Operettenuniformen und ein paar Staubsauger unterwegs. Jeden Dienstag- und Donnerstagmorgen von 8 bis 10 Uhr, bevor die Geschäfte öffnen, gehören die leeren Gänge und Hallen des Shoppingcenters den Wandervögeln der Grossstadt. Ist das nicht ein etwas aussergewöhnlicher Ort zum Wandern? Dr. Turabi Yerli von der Dr. Kushans Diät-Klinik zuckt nur mit den Schultern „Wieso?“ Es spricht ja einiges für „Mall Walking“: Kein Regen. Keine Abgase. Kein Lärm.

Also los geht’s. Es gilt die atemberaubende Strecke von 960 m in Angriff zu nehmen. In bewältigbaren Häppchen à 320 m, aufgeteilt auf drei Etagen. Und wie es sich für einen richtigen Wanderweg gehört, ist er auch mit Wegweisern ausgeschildert. Hilfreich sind die Distanzangaben in Metern, damit wir unsere Kräfte gut einteilen können. Fast wie bei einem Marathon.

Links am Kontrollposten vorbei, marschieren wir die ersten 25 m bis zur ersten Abzweigung bei „Marks und Spencer“. Dann geht’s geradeaus weiter in die einsame Wildnis der geschlossenen Nobelboutiquen. Aber was wie ein Spaziergang aussieht, ist in Tat und Wahrheit ein grausamer Spiessrutenlauf: Fast einen ganzen Kilometer an hunderten, schlanken und wohlgeformten Schaufensterpuppen vorbei. Models mit Taille oder Waschbrettbauch die hämisch von Plakaten grinsen. Vorbei an Kleiderständern mit Grösse 38. Und überall diese vielen Spiegel. Das geht hart an die Gürtellinie. Ab und zu hebt jemand aus unserem Trüppchen den gesenkten Kopf und wagt einen Blick auf die neusten Modetrends um seufzend die Augen wieder auf die Marmorimitation am Boden zu richten. Schweigend und geknickt erreichen wir Meter 320. Noch einmal die Möglichkeit sich zu stärken oder von Dr. Yerli den Puls messen zu lassen, dann geht’s mit der Rolltreppe hinauf in den nächsten Stock. Langsam werden die Konditionsunterschiede sichtbar. Bei Yves Rocher (Meter 435) fällt die Gruppe immer mehr auseinander. Einige lassen sich gehen und benehmen sich, als wären sie auf einem Einkaufsbummel. Wenn das Dr. Yerli sehen würde! Doch der sitzt unten an seinem Tisch, liest Zeitung und wartet mit seiner Waage.

Zwei Drittel der Strecke sind bewältigt und ein Schild zeigt uns, dass wir die Rolltreppe hinunter ins Untergeschoss nehmen sollen. Warum nicht hinauf in den nächsten Stock? Und wieso ist die Treppe nach oben abgestellt? Als alle vorbei sind, stehle ich mich hinauf ins Obergeschoss.

Hier braucht es keine Wegweiser mehr. Ich folge einfach meiner Nase. Gerüche führen und Auslagen verführen mich. „Dunkin Donuts“, „Schlotsky’s Deli“ und „Coffee Hall“ stehen an Stelle von Meterangaben auf den Schildern. Das ist wirklich ein brauchbarer Verpflegungsposten hier oben. Viel besser als bei einem Marathon. Langsam beginnt mir diese Sportart zu gefallen. Und ehe ich mich versehe, sitze ich mit einem knusprigen Sesamkringel und einem dampfenden Kaffee mitten zwischen dem Verkaufspersonal, das sich für den täglichen Kaufansturm mit leiblichen Genüssen rüstet.

Nach meinem zweiten türkischen Rührei wird über die Lautsprecheranlage durchgegeben, dass Nummer 17 gesucht wird. Doch das weisse Mäntelchen mit der 17 hängt an einem Wedel einer Plastikpalme und Nummer 17 steht schon draussen auf der Nottreppe: Im Regen. In den Abgasen. Im Lärm.

Text & Bild: Armin Meienberg