Kann man zurzeit nach Istanbul fahren? Man sollte es sogar – und sich von „Manzara“ die Stadt erklären lassen
Es gibt kaum etwas Großartigeres, als an einem frühen Sommerabend auf einem Balkon in Istanbul zu sitzen und über die Stadt und den Bosporus zu schauen. Am besten hält man dazu ein Glas eiskalten Raki in der Hand. Die tiefstehende Sonne spiegelt sich in Fenstern von Häusern, Moscheen und Palästen und überzieht das Wasser mit einem goldenen Schein. Riesige Tankschiffe gleiten wie Festtagswagen vorüber. Vom Schwarzen Meer aus fahren sie zum Marmarameer und umgekehrt. Dampfer tuten, sie verkehren wie Linienbusse zwischen der asiatischen und europäischen Seite der Stadt und werden umschwärmt von Möwen, die darauf hoffen, dass ihnen ein Fahrgast eine Leckerei zuwirft.
Irgendwann ertönt der Ruf des Muezzins, aus allen Himmelsrichtungen fallen andere Muezzine in seinen Gesang ein. Hört man das zum ersten Mal, dann klingt es, als sei man in die polyphone Soundcollage eines verrückten Künstlers geraten. Sitzt man aber öfter über den Dächern von Istanbul, dann kann man bald die Stimmen unterscheiden. Da sind alte Stimmen und junge, sanfte und strenge. Manche Muezzine klingen aufgeregt, als hätten sie es gerade noch rechtzeitig ans Mikrofon geschafft, andere rufen so formvollendet ruhig zum Abendgebet, als hätten sie eine jahrzehntelange Meditation nur für diesen Augenblick unterbrochen.
Beim damaligen Ausbruch der Proteste um den Gezi-Park war das Istanbuler Geräuschorchester um eine starke Einlage reicher. Denn um Punkt 21 Uhr wurde jeden Abend Krach geschlagen, dann machten die Istanbuler ihrem Ärger Luft über die Regierung Erdogan. Mit Kochtöpfen und Pfannen standen sie in Fenstern und auf Balkonen und schlugen hingebungsvoll auf sie ein. In dieser Zeit konnte es passieren, dass man nach Einbruch der Dunkelheit seinen Logenplatz über den Dächern plötzlich fluchtartig verlassen musste. Denn die Polizei bekämpfte die Demonstranten mit Tränengas, und der Abendwind verteilte die unsichtbare Waffe im ganzen Stadtteil.
Die Revolte hat vielen Türken den Glauben daran zurückgegeben, dass eine echte Demokratie in ihrem Land noch möglich ist. Andere behaupten, die Demonstranten seien durchgeknallte Terroristen. Die Bilder von Tränengasschwaden und knüppelnden Polizisten sorgten für Entsetzen in der westlichen Welt. Washington und das Auswärtige Amt sprachen Reisewarnungen aus, und für einen Moment brach in Istanbul der Tourismus ein: 216 000 Stornierungen zählte die türkische Hotelvereinigung in den ersten Wochen der Proteste, betroffen davon waren vor allem Hotels nahe des Taksim Platzes, wo der Gezi-Park liegt. Kurz darauf hatte sich die Revolte in politische Kanäle verlagert. Es wurde nur noch vereinzelt demonstriert, Tränengasattacken waren selten geworden. Die Reisewarnungen wurden aufgehoben.
Gabi und Erdogan Altindiş haben in den vergangenen Jahren oft das Beißen von Tränengas in den Augen gespürt. Die beiden vermieten bezahlbare Ferienwohnungen an Leute, die Istanbul erkunden wollen. Manzara heißt ihr kleines Unternehmen, dessen Büro im Stadtteil Beyoglu liegt, keine zwei Kilometer vom Taksim-Platz entfernt. Vor dem Fenster wächst der Galataturm in den Himmel, auf dem Tisch steht frisch zubereiteter Cay. Gabi Altindiş sagt: „Wir können nicht in die Zukunft schauen, derzeit aber raten wir niemandem von einer Reise nach Istanbul ab.“
Das deutsch-türkische Ehepaar liebt Istanbul und will etwas von seiner Leidenschaft weitergeben. Mit Lesungen über Kunst und Vorträgen über Politik. Mit Führungen abseits der üblichen Sehenswürdigkeiten. Zu Fuß ist man mit ihnen etwa auf den Spuren der Muezzine unterwegs (hervorragend für die Balkon-Abende), mit dem Fahrrad geht es über die Istanbuler Prinzeninseln. Architekten zeigt Altindiş gern die Gecekondular – Häuser am ausgefransten Rand der Stadt, die Neuankömmlinge aus Anatolien „über Nacht“ zusammen- gezimmert haben. Das alles muss man nicht annehmen, kann es aber. Doch selbst wer eigene Wege geht, verfällt bei Manzara sehr leicht der Stadt.
„Manzara“ bedeutet übersetzt so viel wie „Einsicht“, das Wort wird aber auch verwendet, wenn es um einen „Weitblick“, eine „Aussicht“ geht. Auf das Geschäftskonzept der Altindiş trifft beides zu: Fast alle ihrer Apartments haben Balkone oder Terrassen mit hinreißenden Ausblicken. Wer möchte, dem organisiert Manzara dort ein Live-Konzert. Oder bestellt den Friseur, der den Gast einschäumt und rasiert und schließlich mit versonnenem Blick und einem Feuerzeug die Nasen- und Ohrenhaare abflammt. Fehlt einmal die Zeit zum Einkaufen, dann genügt ein Anruf, und der Kühlschrank ist bei Rückkehr in die Wohnung gefüllt. In jenen, in denen ein anderes Gebäude den Blick auf die Stadt verstellt, entschädigen die Interieurs die Augen.
Manche Gäste sind von all dem so begeistert, dass sie etwas zurückgeben wollen. Und so konnte man vor einiger Zeit erleben, wie Martin Umbach, die deutsche Synchronstimme George Clooneys, mit samtweichen Timbre Kochrezepte, Liebesbriefe und anderes vorlas, das Gäste und Freunde von Manzara dafür mitbringen durften. Der deutsch-türkische Kabarettist Fatih Çevikkollu führte dagegen sein neues Kabarettprogramm „FATIH unser!“ auf. Erdogan Altindiş amüsierte sich köstlich über die feine Ironie – als Deutsch-Türke kennt er sich aus mit kulturellen Missverständnissen.
Schwer erkrankt an Kinderlähmung kam er mit zehn Jahren nach Deutschland. In der Türkei ließ die medizinische Versorgung damals noch zu wünschen übrig, und Münchner Ärzte hatten sich bereiterklärt, den Sohn eines Gastarbeiters, der auf Baustellen schuftete, zu behandeln. Drei Monate sollte der Aufenthalt dauern. Es wurden fast 35 Jahre daraus. Altindiş besiegte die Krankheit, die ihm jedoch ein gelähmtes Bein hinterließ, er lernte Deutsch, ging in München zur Schule, studierte Architektur und arbeitete danach in diesem Beruf. Die Sehnsucht nach der Türkei aber verging nie. Bei einem Istanbul-Besuch verliebte er sich in den Ausblick einer Wohnung und kaufte sie. Es war eine Bruchbude, Altindiş richtete sie wieder her. Die Wohnung sollte ihm ermöglichen, wann immer er wollte, nach Istanbul zu reisen. Das aber wollten bald auch immer öfter seine deutschen Freunde, denen er bereitwillig die Wohnungsschlüssel übergab. Um Kollisionen und umständliche Absprachen zu vermeiden, kaufte Altindiş eine weitere Wohnung hinzu. Doch die Anfragen von Freunden rissen nicht ab, wurden immer mehr, und so hatte Altindiş die Idee für sein Geschäft. Zusammen mit seiner Frau, die ebenfalls Architektin ist, siedelte er nach Istanbul über und gründete Manzara. Das Unternehmen verfügt inzwischen über mehrere Dutzend Apartments. Fast alle liegen in Beyoglu, dem künstlerischen Mittelpunkt der Stadt.
Manche Leute sagen, Manzara würde die Gentrifizierung mit vor- antreiben. Kennt man Berliner Verhältnisse, wo die Umwandlung von Wohnraum in Ferienapartmenthäuser durch reiche Investoren immer mehr Alteingesessene verdrängt, mag dieser Gedanke naheliegen. Er trifft aber auf Manzara so nicht zu. Altindiş ist kein Immobilien zocker. Die meisten Wohnungen kauft er nicht, sondern schließt einen Fünfjahresvertrag mit den Besitzern ab. Immer handelt es sich um Objekte, die er aufwendig renovieren lassen muss. Alte Bausubstanz, um die sich jahrzehntelang niemand gekümmert
hat, bewahrt er so vor dem Verfall. Hinzu kommt, dass er und seine Frau ganz bewusst die Nachbarschaft in ihr Geschäft miteinbeziehen: Im ehemaligen Frühstückscafé von Manzara arbeiteten neben einigen Deutsch-Türkinnen vor allem Istanbulerinnen. Was auf den Tisch kommt, wird beim Tante-Emma- Laden um die Ecke eingekauft. Handwerker aus dem Viertel erledigen die Renovierungen, und die Möbel und Accessoires, mit denen Gabi Altindiş die neuen Wohnungen ausstattet, stammen fast alle aus Werkstätten rund um den Galataturm – Manzara gibt den Leuten Arbeit.
Das wertet das Viertel auf, schafft neue Perspektiven. Im Kleinen, aber auch, wenn es um das große Ganze geht. Besonders Kunst und Architektur und ein Austausch, der Brücken schlägt, sind den Altindiş wichtig. Das Wohnatelier von Manzara ist neuerdings für mehrere Monate im Jahr für Architekten und Bauplaner reserviert. Für sie hat Manzara ein Stipendium ins Leben gerufen, das eine intensive Beschäftigung mit den Facetten Istanbuls ermöglicht. Nirgendwo sonst prallen östliche und westliche Bautraditionen so krachend aufeinander wie am Bosporus, und die derzeitige Revolte gegen die Regierung ist auch ein Aufbegehren gegen deren stadtplanerischen Gestaltungswahnsinn. In der Hochphase des Protests sind die Altindiş fast täglich mit Freunden und Mitarbeitern zum Gezi-Park gelaufen. Oft kamen auch einige Gäste mit. Gabi Altindiş sagt: „Die meisten waren froh, die Atmosphäre dort mit eigenen Augen erleben zu können.“
Das Informieren über die politischen Verhältnisse gehört für das Paar zum persönlichen Service mit dazu. Die beiden beziehen dabei Stellung, halten sich jedoch klar an Fakten und verschweigen nicht, was es Positives oder Negatives auf beiden Seiten der Konfliktparteien gibt. Man ist also derzeit sehr gut aufgehoben bei dem Paar.
Karen Krüger in der FAZ